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Am folgenden Morgen war dann das 'böse Erwachen' angesagt. Während ich noch völlig verschlafen und verzweifelt an meinem Wecker rumdrückte, damit er mit seinem nervenden Gepiepe endlich aufhören würde, bekam ich einen halben Herzinfarkt, als ich die Augen aufmachte. Sie stand direkt neben meinem Bett.

Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Sorge und Ärger wieder, wie ich ihn noch nie auf ihrem Gesicht gesehen hatte. Ähnliche Mimik war mir natürlich nicht fremd, ich hatte sie als Jugendlicher oft genug bei meiner Mutter ausgelöst, und wohl auch hin und wieder bei meiner letzten Freundin. Doch in all den Wochen, die wir uns nun jeden Sonntag gesehen hatten, war ihr kaum mehr zu entlocken gewesen, als mal ein Lächeln oder ein Blick den ich als "Du weißt, dass ich dir keine Antwort darauf gebe" interpretierte.
Meine Gesichtszüge müssen im ersten Moment aber auch etwas entgleist sein und wahrscheinlich habe ich auch kurz aufgeschrien und bin etwas zusammen gezuckt, denn im selben Moment machte sie einen Sprung zurück. Man wacht schliesslich nicht jeden Tag auf, und wird von dem Geist beobachtet, der einen sonst nur am Sonntag besuchte.
"Was machst Du denn hier? Heute ist doch Montag.", sagte ich also zu ihr.
Die Mischung aus Sorge und Ärger, aus der ihr Gesichtsausdruck bislang bestanden hatte, fing an zu kippen. Und wie ich besorgt feststellte, schien Sorge keine große Rolle mehr in der kommenden Mimik zu spielen. Ich musste an 'Poltergeist' denken und wollte mich schon instinktiv in der Matratze festkrallen, sollte sie nun beginnen mich und die Alltagsgegenstände im Schlafzimmer rumfliegen zu lassen.
"Versteh mich nicht falsch, aber bisher warst Du doch immer nur Sonntags hier." ...und plötzlich begann ich zu verstehen. Sie war am Vortag hier gewesen, aber ich nicht. Ich hatte mich mit meinen Freunden am Schotterteich amüsiert, und sie hatte auf mich gewartet. War wohl immer wieder aufgetaucht, und verschwunden, aufgetaucht und verschwunden, und hatte dabei vergeblich auf mich gewartet und sich wohl Sorgen gemacht, wo ich blieb. Auch wenn ich bisher nie das Gefühl hatte, dass es für sie entscheidend war, was ich tat, wurde mir nun klar, dass es für sie sehr wohl entscheidend war, dass ich anwesend war.
"Oh.", war alles was ich sagen konnte, als mich der Hammer der Erkenntnis endlich traf.
"Es tut mir leid. Mir war nicht klar, wie wichtig diese Sonntage für Dich sind. Aber wenn Du auch an anderen Tagen vorbei kommen kannst, dann schau doch auch mal unter der Woche vorbei. Ich bin oft genug abends nach der Arbeit zuhause, und dann können wir immer noch gemeinsam Zeit verbringen."
Offensichtlich zeigten meine Worte bei ihr Wirkung, denn sie entspannte sich merklich. Es war mir erst gar nicht aufgefallen, aber dieser bläuliche Schimmer, der irgendwo innerhalb ihrer Konturen lag, hatte in den letzten Minuten einen tieferen, dunkleren Blauton angenommen gehabt, und war nun wieder zu dem blassen Ton geworden, den ich kannte.
Ich saß nun an der Bettkante und schaute zu ihr hoch, sie lächelte zufrieden und wir waren offenbar beide froh, dass sie nicht den Poltergeist raushängen lassen musste. Wir schwiegen gemeinsam ein paar Minuten, bis mir plötzlich einfiel, dass ich längst auf den Beinen sein sollte.
"Verdammt, ich muss los. Sorry, aber die Arbeit ruft.", ich sprang aus dem Bett und hastete an ihr vorbei aus dem Schlafzimmer ins Bad. Sie machte eine wegwerfende Bewegung und trottete ins Wohnzimmer. Als ich nach dem Duschen dort vorbei kam war sie aber wieder verschwunden. Ich fragte mich, welche Auswirkungen das nun auf mein Leben haben würde, wo sie wohl öfter in meiner Wohnung auftauchen würde.

Die Auswirkungen liessen nichtlange auf sich warten, und waren alle eigentlich positiver Natur. Von nun an, saß ich kaum noch abends allein in meiner Wohnung. Immer öfter besuchte sie mich, und so lernte sie immer besser kennen, verstand ihre Mimik und Gestik immer besser, die sie auch immer offener einsetzte. Wir entwickelten eine richtige Kommunikation, und ich hinterließ ihr Nachrichten, wenn ich wusste, dass ich erst später heimkommen würde, damit sie nicht umsonst wartete. Ich wusste weiterhin nicht, woher sie kam und wohin sie ging, wo sie war, wenn sie nicht bei mir war. Aber ich konnte einige ihrer Vorlieben und Interessen kennen lernen. Sie mochte Thriller, sowohl in Buchform als auch Filme. Sie machte sich nicht wirklich was aus Musik, fand es aber wiederum spannend mir zuzusehen, wenn ich Computer spielte. Keine große Überraschung war es, herauszufinden, dass sie die Farbe blau mochte. Bald hatte ich das tatsächliche Gefühl, dass wir Freunde geworden waren.
So oft sie nun auch zu Besuch war, und offensichtlich konnte sie mittlerweile ziemlich gut kontrollieren ob sie verschwand oder nicht, da sie sich begann von mir zu verabschieden, gab es Zeiten, in denen sie nicht da war. Und das war stets dann der Fall, wenn ich richtigen Besuch hatte. Wobei 'richtig' wohl das falsche Wort ist. Feststofflicher Besuch, vielleicht? Egal.
Wann immer ich noch jemanden zu Besuch hatte, konnte ich sicher sein, dass sie nicht da war. Das fand ich auf der einen Seite zwar erleichternd, denn ich hätte es wohl schwer gefunden, sie anderen Leuten vorzustellen. "Darf ich vorstellen, mein Geist. Keine Sorge, sie ist wirklich ganz nett." Auf der anderen Seite, war es aber auch Schade, denn mit der Zeit war sie ein richtig wichtiger Bestandteil meines Lebens geworden, den ich mit niemandem teilen konnte. Meinen Freunden oder den Kollegen in der Arbeit erzählte ich natürlich nicht davon, die hätten nur meine geistige Gesundheit in Frage gestellt. Meinen Eltern gegenüber behauptete ich, ich hätte mich mit einer Nachbarin angefreundet, die ab und zu zum Fernsehen oder zum Plaudern vorbei kam. Es war einfacher als die Wahrheit, und so konnte ich wenigstens ein wenig über sie reden.
Auf die Idee, dass es vielleicht tatsächlich an meinem Verstand lag, dass niemand sie sehen konnte, sie zufällig nie da war, wenn ich Besuch hatte, bin ich kein einziges Mal gekommen, dazu hatte ich ja auch keine Veranlassung.

Manchmal, wenn sie sehr lange blieb, dann kam sie mit ins Bett. Nicht auf diese Weise, wie man sich das jetzt vielleicht denkt, schliesslich war sie nicht viel mehr als die dreidimensionale Kontur eines Menschen. Aber sie saß dann an der Bettkante, oder lag auch auf der freien Stelle neben mir. Immerhin bot das Bett genug Platz für drei Leute. Deswegen hatte ich ihr dann irgendwann sogar eine eigene Garnitur Bettzeug bereit gelegt, die sie natürlich nicht brauchte, aber ich konnte an ihrer Mimik erkennen, dass sie sich über die Geste freute.
Und so kam es, dass ich immer wieder mal neben ihr im Dunkeln lag, und ihr im einschlafen noch irgendwas erzählte. Von meinem Alltag, Anekdoten aus der Arbeit, Geschichten aus meiner Kindheit oder auch Gedanken zum aktuellen Tagesgeschehen, was mir halt so einfiel. In der Finsternis meines Schlafzimmers wirkte das blassblaue Leuchte, das von ihr ausging, zwar intensiver als sonst, aber dann schien auch sie intensiver und realer zu sein als sonst.
Ich mochte diese gemeinsamen Nächte besonders. Das Gefühl, sie wache über meinen Schlaf, würde böse Träume fern halten, hatte eine überaus beruhigende Wirkung auf mich. Auch wenn sie bestimmt, kurze Zeit nachdem ich eingeschlafen war, wohl verschwand.

Morgens tauchte sie selten auf, außer an manchen Wochenenden, wohl weil sie wusste, dass ich gar keine Zeit für sie hatte, viel zu sehr im Stress war mich für die Arbeit fertig zu machen. Nach einigen Wochen hatte ich mich bereits an das alles so sehr gewöhnt, als wäre es mein ganzes Leben lang nicht anders gewesen.
Wie gesagt, war sie nicht jeden Tag bei mir. Manchmal zwei, drei Tage hintereinander, dann mal wieder zwei, drei Tage gar nicht. Aber jeden Sonntag, den ich daheim verbrachte, kam sie verlässlich vorbei, um mit mir einen Film zu schauen oder einfach nur faul rumzuhängen.

Es war ein Dienstag Abend als ich das letzte mal einschlief, während sie still neben mir liegend vor sich hin leuchtete. Ich hatte ihr davon erzählt, wie meine letzte Freundin mich vor drei Jahren verlassen hatte, kurz nachdem wir zusammen in diese Wohnung gezogen waren. Das sie plötzlich ein großartiges Jobangebot bekommen hatte, um eine Zweigstelle des Konzerns für den sie arbeitete zu übernehmen und ins Ausland verschwunden sei. Das ich zu inflexibel gewesen sei um mitzugehen, meinen Job nicht aufgeben wollte, obwohl er nichts besonderes war. Vielleicht hatte diese Geschichte ja etwas damit zu tun das sie ging. Vielleicht lag es auch nicht in ihrer Macht.

Als ich sie die nächsten Tage nie zu sehen bekam, wunderte mich das noch nicht. Als das Wochenende kam und sie noch immer nicht wieder aufgetaucht war, und auch keine Spur davon zu sehen war, dass sie in der Wohnung gewesen war, während ich fort war, wurde ich ein wenig unruhig. Als sie aber auch am Sonntag nicht kam, war ich am Boden zerstört.
Zuerst war es Sorge, ihr hätte etwas zugestossen sein können, auch wenn ich keine Ahnung hatte, welche Gefahren auf halbdurchsichtige junge Frauen lauerten.
Je länger der Sonntag wurde, umso mehr verlor ich das Gleichgewicht, die Balance, jenen schmalen Grat unter den Füssen, dem wir Menschen folgen, wenn wir richtig funktionieren.
Die Zeit für den gewohnten Sonntag-Nachmittag-Film verging, ohne dass ihr blauer Schein in meiner Wohnung zu sehen war.
Der Abend kam, und ich hatte seit der früh nichts mehr gegessen, aber auch gar keinen Appetit doch noch was zu mir zu nehmen. Ich fühlte mich matt und leer, wollte am liebsten schlafen gehen, aber die Vorstellung sie zu versäumen hielt mich bis Mitternacht wach.
Am nächsten Tag hielt ich es nicht lange in der Arbeit aus. Ich war fahrig und unkonzentriert. Also meldete ich mich für die nächsten Tage krank und ging heim.

Ich denke nicht, dass ich erwähnen muss, dass sie auch in den nächsten Tagen nicht wieder kam. Doch diese Zeit, die ich unruhig wartend in meiner Wohnung verbrachte, half mir dabei, mir darüber klar zu werden, dass ich mich offensichtlich in sie verliebt hatte. So seltsam das war, in einen Geist oder eine Vorstellung verliebt zu sein. Ich hatte sie nie berührt oder gar geküsst, sie nie gehört oder gerochen. Aber ihre Anwesenheit hatte mein Leben auf eine seltsame Weise bereichert, die nun, da es vorbei war, mir unerträglich wurde.
Schliesslich akzeptierte ich, dass sie gegangen war. Ob nun freiwillig oder nicht, aber mein Geist hatte mich verlassen.


Seither sind nun vier Wochen vergangen. Einen ganzen Monat ist es her, und nun liege ich also um halb vier wach in meinem Bett, starre in die undurchdringliche Dunkelheit der Nacht, die mein Schlafzimmer eingenommen hat. All diese Erinnerungen an sie und die Zeit mir ihr zucken innerhalb weniger Sekunden durch meinen Kopf. Ein bestimmter Blick von ihr, ein Lächeln, ihre Hand die zur Popcorn-Schüssel greifen will und im letzten Moment zurück zuckt, das überraschte Gesicht als sie bei einem Thriller die die Schlüsselszene mit dem großen Plot-twist liest. Die Bilder verstummen endlich, als ich doch wieder einschlafe. Die restliche Nacht schlafe ich traumlos durch.

Das ich nach dieser Nacht ein wenig unausgeschlafen bin ist also gar nicht so verwunderlich. Ich spule mein Morgenprogramm automatisch ab. Als ich gerade in der Küche stehe und das Frühstück herrichte, läutet es an der Wohnungstür. Normalerweise ist das keine Uhrzeit, an der sich meine Glocke meldet, außer es ist vielleicht der Postler mit einem Paket. Den erwartete ich zwar nicht, aber unausgeschlafen wie ich bin, gehe ich einfach zur Tür und öffne sie ohne lange darüber nachzudenken.
Vor der Tür steht eine junge Frau mit langem blonden Haar, dass sie offen über Schultern hängend trägt. Sie trägt einen blauen Rock und eine dunkle Bluse, hat einen kleinen Koffer neben sich am Boden stehen. Ich will ihr schon sagen, dass sie sich in der Türnummer geirrt hat, oder auch das ich nicht vorhabe irgendwas zu kaufen, zu spenden, zu unterschreiben oder gar ihrem Glauben beizutreten, doch sie steht nur da und lächelt mich an. In dem Moment trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz, und ich bin mit einem Mal hell wach.

Es ist eindeutig sie. Ihre markante Nase lässt jeden Irrtum ausschliessen. Es liegt nicht nur am der anderen Frisur oder der Kleidung, dass ich sie nicht im ersten Moment erkannt habe. Nein, die Tatsache, dass sie kein bisschen durchscheinend wirkt, und kein blauer Schimmer in ihr zu ruhen scheint, dass sie voll und ganz konsistent und feststofflich wirkt, haben mich in die Irre geführt. Ich stehe nur da, starre sie mit offen stehendem Mund an.
Jetzt, in diesem Moment, bin ich sicher den Verstand verloren zu haben. Sie monatelang halbtransparent in meiner Gegenwart zu haben, kam mir nie unrealistisch oder falsch vor. Doch dass sie nun real, in Fleisch und Blut vor mir stehen soll, zeigt mir, dass es um meine geistige Gesundheit schlechter bestellt ist, als meine Freunde angenommen haben.

Sie lacht, und kommt die zwei Schritte die uns noch trennen näher.
Sie umarmt mich und tatsächlich kann ich sie spüren, ich lege meine Arme um sie, halte sie fest. Ich kann sie riechen, und wie sie duftet. Während sie sich an mich drückt, flüstert sie mir ins Ohr. "Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Aber dafür bleibe ich jetzt bei Dir."

Fin

- BM out -
 

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