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Die Debatte, dass Videospiele verrohen und verdummen, wird heute nur mehr von Populisten geführt und auch das immer seltener. Die Forschung zeigt viel öfter auf, welche positiven Effekte Videospiele für das Gehirn, die Koordination und die Kreativität haben können. Diese Frage muss man nicht mehr stellen.
Die Frage ob Videospiele Kunst sind (/sein können) wird wohl schon länger geführt als die, ob Videospiele gefährlich sind. Darauf hat die Wissenschaft natürlich keine Antwort.
Es gibt aber ein Spiel, dass das meiner Meinung nach klarstellt.

Ende Oktober ist das Spiel "Orwell" erschienen, dass von Kritikern wie Spielern hochgelobt wird und war auch für den "Games for Impact"-Award nominiert.
Ich bin vor wenigen Minuten mit dem Spiel fertig geworden und was für einen 'Impact' es hinterlassen hat.

Die Prämise ist, dass in der Hauptstadt des Landes "The Nation" eine Bombe hoch geht.
Zum Glück geht gerade eine Überwachungssoftware an den Start, die alle möglichen Datenbrocken zusammenfasst, Profile erstellt und es den Sicherheitskräften erlaubt, nach potentiellen Verbrechern zu fanden.
Die Aufgabe des Spielers ist es, der Software diese Datenbrocken zuzuspielen. Dafür durchforstet man Blogs, Nachrichten-Seiten und Foren, später auch eMails, Chats, Telefonprotokolle und mehr. Potentielle Datenbrocken werden im Text hervorgehoben und man kann dann entscheiden ob sie für die Ermittlung relevant sind. Im Grunde bringt aber jeder Datenbrocken, den man Orwell zufüttert, eine Konsequenz mit sich.

So beginnt nun also die Suche nach dem Bombenleger, den die Sicherheitskameras zum Glück identifizieren konnten. Man stellt Verbindungen zwischen Leuten her, sammelt Aliases, womit neue Datenquellen auftauchen, und liest sich in die Welt einer Gruppe ein, die sich regierungskritisch dem Slogan "Die Gedanken sind frei" verschrieben hat.

Als während dem ersten Ermittlungstag eine weitere Bombe hochgeht, wird klar, dass es sich hier um eine größere Gefahr handelt als gedacht und man kommt unter Zeitdruck um weitere Attentate zu verhindern.

Man darf aber die vorgeschlagenen Datenbrocken nicht ungefiltert einfach weiterleiten.
Hier zwei Beispiele:
Dass sich jemand die Kreditkarte des Partners ungefragt "ausborgt", ist vielleicht nicht für die Ermittlung wichtig, ob es sich dabei um einen Terroristen handelt. Wenn man den Datenbrocken aber weitergibt, dass die Karte "gestohlen" wurde, wird sie kurzerhand gesperrt. Sicher ist Sicher, richtig?

Wenn eine Verdächtige aber versucht, eine Freundin zum fortgehen zu überreden und damit lockt, dass sie deren Lieblings-Muffins gebacken hat, antwortet diese Freundin, wie schlimm es ist, dass man von seinen Freunden so gequält wird.
Dieser Datenbrocken, wird vom System als "die Verdächtige foltert Leute" interpretiert. Was ein wenig aus dem Kontext gerissen ist, und zeigt, warum es einen Menschen braucht, der hoffentlich mitliest/denkt.

Dann wird man plötzlich mit widersprüchlichen Informationen konfrontiert und kann nur eine davon weitergeben. Wer hat das Treffen organisiert? Hat hier jemand in Notwehr oder in Rage gehandelt? ...dann begibt man sich nochmals auf die Suche nach dem was zwischen den Zeilen steht. Manchmal folgt man auch seinem Bauchgefühl.

So überschlagen sich die Ereignisse. Der Zeitdruck steigt, man muss Entscheidungen treffen ..und mit der Ungewissheit leben, dass vielleicht ein anderer Datenbrocken ein Leben hätte retten können.

Das Spiel ist unglaublich gut geschrieben und inszeniert. Dafür, dass man im Grunde nur vor einem Computerbildschirm sitzt und Text-Bausteine von rechts nach links schiebt, entwickelt sich eine unglaublich packende Dynamik.
Später im Spiel, als ich einem Telefonat zugehört habe und auf passende Datenbrocken gewartet habe, bin ich tatsächlich mit den Händen vorm Mund dagesessen und war angespannt wie bei einem Thriller.


Soweit so Spiel. Wo ist die Kunst?
Während man zu Beginn einfach vor (s)einem Computerbildschirm sitzt und Datenbrocken weitergibt, um die gesuchte Terroristin zu fassen, ändert sich das mit der Zeit. Man lernt die Charaktere besser kennen. Man liest ihre eMails und ihre Chatprotokolle. Man erfährt über ihre Vergangenheit und ihre Wünsche und wie sie mit ihrer Familie klar kommen. Ideologische und romantische Beziehungen werden greifbar und sind nicht mehr einfach ein Diagramm, das Leute verknüpft.

Spätestens dann kommt das Gefühl auf, dass man hier im Privatleben von Leuten rumschnüffelt, die vielleicht gar nichts mit dem Fall zu tun haben. Nur weil jemand mit einem vermuteten Terroristen in einer Band war und sich auf seiner Social Media-Seite über die Regierung beschwert hat, ist er jetzt ein Verdächtiger und ich schau mir an, welche Fächer er an der Uni belegt hat...

Gerade weil man weiß, dass diese Art von Profiling tatsächlich gerade stattfindet, wird es unheimlich.

Ein weiterer Aspekt der zeigt, wie intensiv die Erfahrung ist, war auch die Tatsache, dass ich dann zu einem bestimmten Zeitpunkt meine eigene Theorie hatte und begonnen habe, nach entsprechenden Datenbrocken Ausschau zu halten, um sie zu bestätigen. (fyi: meine Theorie war falsch.)
Den Leuten bei NSA und Co, die zur Zeit etwas sehr ähnliches machen wie man als Spieler in Orwell, wird es wahrscheinlich nicht besser gehen...

Kunst imitiert das Leben, sagt man.
Ich bin davon überzeugt, dass "Orwell" einen mit seiner Geschichte und der Spielmechanik, weit näher an das Leben ranführt, als man es sonst erfahren würde.
Somit hat Orwell einen gewaltigen Eindruck bei mir hinterlassen.

Orwell kostet 10€ und es dauert ca 5, 6 Stunden um eines der möglichen Enden zu erreichen. Kaufen!

- BM out -
 

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